2017
Pinacoteca Comunale Casa Rusca, Locarno
Ich sah fünf weisse Marmorstehlen, alle schmal, fast mannshoch mit eingemeisselten, geschwärzten Buchstaben des griechischen und lateinischen Alphabets beschrieben. Sie standen, in gerader Linie und dicht nebeneinander in die steinige Erde gesetzt, am Ende einer Strasse… Christoph Ransmayr, Ich sah drei schwarze Bronzefiguren, alle schmal, überlebensgross, auf dem Weg von Bellinzona nach Locarno, rechts der Autostrasse vor den Konsumtempeln.
Atlas eines ängstlichen Mannes
Unauslöschlich. Mitten aus dem Verkehrsfluss ragten drei Riesen ins Getöse, statuarisch, archaisch, als wären sie einer anderen Zeit entsprungen. Fast niemand hatte es noch für möglich gehalten, dass in dieser kaputten, molochartigen Gegend drei Kunstfiguren so sehr das Augenmerk fanden, sie sozusagen einen Aufstand gegen ihre Umgebung führen. Noch mehrere Male hat sich das Erlebnis wiederholt, aber nie war es so stark, so einprägsam gewesen wie beim ersten Anblick. Eine bildhafte Erschütterung. Blosse Körperlichkeit gegen die Anonymität und Kälte der Warenwelt.
Die körperhafte Präsenz dieser drei Figuren, Höhe 4 Meter 20, erstaunte. Und fragte nach dem Künstler. Nie war dem Reisenden in den letzten Jahren eine ähnlich innere Monumentalität begegnet, hierzulande, an den bescheidenen zurückhaltenden Gestaden, schon gar nicht. Natürlich dachte ich an G. und J., aber um sofort zu bemerken, dass hier eine ganz andere Hand am Werk war. Ein Maler, ein malender Bildhauer. Keiner, der immerzu wegnimmt, keiner, der pausenlos verwirft und neu aufträgt. Da malt einer in Gips. Das Foto des Künstlers mit dem Spachtel in der Hand war später die Bestätigung.
Mit dem Spachtel in der Hand im Gips malen, das hat etwas mit der «Erschaffung des Menschen» gemein. Der Materie Leben einhauchen. Hier regiert kein Selbstzweifel, hier ist die Existenz nicht in Gefahr, abhanden zu kommen, hier härtet sich kein Überlebender am Feuerofen. Dieser Künstler frönt einem unversehrten Glauben an den Menschen, ja die «pax humana». Absturzgefahr lauert nur auf den schiefen Standebenen, mit denen der Bildhauer ein Gesetz aufzuheben scheint von Standflächen, Standbeinen und aufrechtem Gang. Sogar G., der nach einem Autounfall zeitlebens humpelte, hielt an den horizontalen und vertikalen fest. Schief und schräg – das sind wesentliche Erweiterungen der Bildhauerkunst im 20.Jahrhundert, zwischen aufrecht und stürzend.
Aber selbst in dieser prekären und gleichsam unentschiedenen, transformatorischen Lage verfügen diese Figuren über eine Standfestigkeit und Diesseitigkeit die jede Gravität aufhebt. Vielmehr scheinen sie tief verwurzelt, gleichsam aus dem Boden gewachsen. Ihre massive Körperlichkeit, die sie nicht nur dem Guss, dem neuen Material verdanken, nicht nur den Überhöhungen und der Statuarik (selten Arme, keine Schritte – kaum Bewegung), kommt von innen. Das ist das Geheimnis jeder Bildhauerei: der Materie, und sei sie noch so voluminös, Seele geben. Am deutlichsten sprechen und blicken «Köpfe»: in ihrem Innern wohnen alle Sinne.
Ein Künstler, der zu diesem Akt befähigt ist, muss nicht nur über Talent, Inspiration und Imagination verfügen, sondern über gereifte Erfahrung, über Tradition. Solches Schaffen kennt keine Epochen und verzichtet auf Datierung. Es lebt von der Intuition des Augenblicks und stellt sich gleichzeitig in die Geschichte. Die Geschichte des Menschseins und seiner Darstellung. Solche Kunst ist an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich, in jeder Kultur. Sogar in unserer «Moderne». Sie ist möglich in einem alten Haus mit wundervollen Laubengängen und einem zauberhaften Innenhof in Ligornetto im südlichen Tessin. Hier warten noch viele Gipse auf ihre Wiedergeburt in Bronze, ganze «Sozietäten» auf ihr modellhaftes Auftreten als Gemeinschaft. Selten ist der Gegensatz von Individualität und Gesellschaft kleiner – einzeln, zu zweit oder dritt und als Masse – alle passen sich ein in die «family of man», in das schöne Wort «mankind».
Dass Solidarität keine blosse Worthülse ist, lehrt uns das Werk von Ivo Soldini. Mehr als eine Wortverwandtschaft, schliesst es auch «solitaire» ein.
Als Christoph Ransmayer auf seiner Kartographie des «ängstlichen Mannes» unter 70 «wahren» Geschichten, die immer mit den beiden Worten «Ich sah» einsetzen, ahnungslos zu den fünf schmalen Marmorsäulen einer griechischen Insel hinaufstieg, war er sich nicht gewahr, das zerstörte Grabmal von Homer zu betreten.
Ein Gang hinunter ins «sotterraneo» der Casa Rusca zu den vierzehn Bronzen und der mächtigen Kohlezeichnung von Ivo Soldini grüsst den grossen «Seher» und überbrückt Zeit und Raum.
2015
Vira Gambarogno
6. Schweizerische Triennale der Skulptur, Bad Ragaz e Vaduz
2012
Galartis, Sion
2011
Palazzo comunale, Riva San Vitale
Galerie zum Schlüssel, Horgen
2009
Museum Rehmann, Laufenburg
Galerie de l’Hôtel Ville, Yverdon-les-Bains
2007
Villa Saroli, Lugano
2006
Pinacoteca cantonale Giovanni Züst, Rancate
Esplanade de Montbenon, Losanna
Hardhof Basel, Basilea
2005
Château de Gruyères, Gruyères
2003
Galerie Eule Art, Davos
2001
Centro Svizzero, Milano
1998
Galerie Lex Artis, Zollikon
The Everest Room, Chicago
1997
Monumento San Giovanni Battista, Gnosca
1996
Galerie Pavillon Werd, Zurigo
1995
Galerie Christine Brügger, Berna
1994
Galerie Jonas, Cortaillod
Museo d’arte Mendrisio, Mendrisio
1993
Schloss Arbon, Arbon
1991
Sala Diego Chiesa, Chiasso
1990
Galleria Civica, Cesate
1988
Comptoir, Losanna
1986
Galerie am Kreis, Berna
1985
Biblioteca cantonale, Lugano
Galerie Le Manoir, La Chaux-de-Fonds
1984
Galerie Werner Bommer, Zugo
1981
Palazzo Civico, Bellinzona
1978
Galerie Toni Brechbühl, Grenchen
1973
Galerie Georges Herzog, Büren an der Aare
Solitaire Et Solidaire
Guido Magnaguagno
Ich sah fünf weisse Marmorstehlen, alle schmal, fast mannshoch mit eingemeisselten, geschwärzten Buchstaben des griechischen und lateinischen Alphabets beschrieben. Sie standen, in gerader Linie und dicht nebeneinander in die steinige Erde gesetzt, am Ende einer Strasse…