Guido Magnaguagno

Ich sah fünf weisse Marmorstehlen, alle schmal, fast mannshoch mit eingemeisselten, geschwärzten Buchstaben des griechischen und lateinischen Alphabets beschrieben. Sie standen, in gerader Linie und dicht nebeneinander in die steinige Erde gesetzt, am Ende einer Strasse…

Christoph Ransmayr,
Atlas eines ängstlichen Mannes

Ich sah drei schwarze Bronzefiguren, alle schmal, überlebensgross, auf dem Weg von Bellinzona nach Locarno, rechts der Autostrasse vor den Konsumtempeln.
Unauslöschlich. Mitten aus dem Verkehrsfluss ragten drei Riesen ins Getöse, statuarisch, archaisch, als wären sie einer anderen Zeit entsprungen. Fast niemand hatte es noch für möglich gehalten, dass in dieser kaputten, molochartigen Gegend drei Kunstfiguren so sehr das Augenmerk fanden, sie sozusagen einen Aufstand gegen ihre Umgebung führen. Noch mehrere Male hat sich das Erlebnis wiederholt, aber nie war es so stark, so einprägsam gewesen wie beim ersten Anblick. Eine bildhafte Erschütterung. Blosse Körperlichkeit gegen die Anonymität und Kälte der Warenwelt.

Die körperhafte Präsenz dieser drei Figuren, Höhe 4 Meter 20, erstaunte. Und fragte nach dem Künstler. Nie war dem Reisenden in den letzten Jahren eine ähnlich innere Monumentalität begegnet, hierzulande, an den bescheidenen zurückhaltenden Gestaden, schon gar nicht. Natürlich dachte ich an G. und J., aber um sofort zu bemerken, dass hier eine ganz andere Hand am Werk war. Ein Maler, ein malender Bildhauer. Keiner, der immerzu wegnimmt, keiner, der pausenlos verwirft und neu aufträgt. Da malt einer in Gips. Das Foto des Künstlers mit dem Spachtel in der Hand war später die Bestätigung.

Mit dem Spachtel in der Hand im Gips malen, das hat etwas mit der «Erschaffung des Menschen» gemein. Der Materie Leben einhauchen. Hier regiert kein Selbstzweifel, hier ist die Existenz nicht in Gefahr, abhanden zu kommen, hier härtet sich kein Überlebender am Feuerofen. Dieser Künstler frönt einem unversehrten Glauben an den Menschen, ja die «pax humana». Absturzgefahr lauert nur auf den schiefen Standebenen, mit denen der Bildhauer ein Gesetz aufzuheben scheint von Standflächen, Standbeinen und aufrechtem Gang. Sogar G., der nach einem Autounfall zeitlebens humpelte, hielt an den horizontalen und vertikalen fest. Schief und schräg – das sind wesentliche Erweiterungen der Bildhauerkunst im 20.Jahrhundert, zwischen aufrecht und stürzend.

Aber selbst in dieser prekären und gleichsam unentschiedenen, transformatorischen Lage verfügen diese Figuren über eine Standfestigkeit und Diesseitigkeit die jede Gravität aufhebt. Vielmehr scheinen sie tief verwurzelt, gleichsam aus dem Boden gewachsen. Ihre massive Körperlichkeit, die sie nicht nur dem Guss, dem neuen Material verdanken, nicht nur den Überhöhungen und der Statuarik (selten Arme, keine Schritte – kaum Bewegung), kommt von innen. Das ist das Geheimnis jeder Bildhauerei: der Materie, und sei sie noch so voluminös, Seele geben. Am deutlichsten sprechen und blicken «Köpfe»: in ihrem Innern wohnen alle Sinne.
Ein Künstler, der zu diesem Akt befähigt ist, muss nicht nur über Talent, Inspiration und Imagination verfügen, sondern über gereifte Erfahrung, über Tradition. Solches Schaffen kennt keine Epochen und verzichtet auf Datierung. Es lebt von der Intuition des Augenblicks und stellt sich gleichzeitig in die Geschichte. Die Geschichte des Menschseins und seiner Darstellung. Solche Kunst ist an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich, in jeder Kultur. Sogar in unserer «Moderne». Sie ist möglich in einem alten Haus mit wundervollen Laubengängen und einem zauberhaften Innenhof in Ligornetto im südlichen Tessin. Hier warten noch viele Gipse auf ihre Wiedergeburt in Bronze, ganze «Sozietäten» auf ihr modellhaftes Auftreten als Gemeinschaft. Selten ist der Gegensatz von Individualität und Gesellschaft kleiner – einzeln, zu zweit oder dritt und als Masse – alle passen sich ein in die «family of man», in das schöne Wort «mankind».

Dass Solidarität keine blosse Worthülse ist, lehrt uns das Werk von Ivo Soldini. Mehr als eine Wortverwandtschaft, schliesst es auch «solitaire» ein.

Als Christoph Ransmayer auf seiner Kartographie des «ängstlichen Mannes» unter 70 «wahren» Geschichten, die immer mit den beiden Worten «Ich sah» einsetzen, ahnungslos zu den fünf schmalen Marmorsäulen einer griechischen Insel hinaufstieg, war er sich nicht gewahr, das zerstörte Grabmal von Homer zu betreten.

Ein Gang hinunter ins «sotterraneo» der Casa Rusca zu den vierzehn Bronzen und der mächtigen Kohlezeichnung von Ivo Soldini grüsst den grossen «Seher» und überbrückt Zeit und Raum.